Der Auftritt des geistlichen Führers der Tibeter im Hallenstadion ist ein Lehrstück in Gelassenheit.

Sonntagmorgen um kurz vor acht. Es regnet, ein Hauch von Herbst liegt über Zürich. Die Stadt schläf
noch, die Strassen sind fast menschenleer. Doch vor dem Hallenstadion in Oerlikon hat der Tag längst
begonnen. Tausende Menschen stehen Schlange: Frauen, Männer, Kinder, ältere Menschen. Eltern
tragen Babys und Kleinkinder auf den Armen, oder sie schieben Grosseltern in Rollstühlen langsam
vor sich her. In aller Ruhe, mit oder ohne Regenschirm.

Viele der Wartenden tragen Roben, die dem traditionellen Chuba der Bergvölker im Himalaa
nachempfunden sind. Den Frauen reichen die festlichen Gewänder bis zu den Knöcheln; Männer
tragen die mantelähnlichen Trachten etwas kürzer und darunter eine Hose. Einige Besucher sind aus
Paris angereist. Der Reisecar aus der französischen Hauptstadt hält direkt vor dem Hallenstadion. Der
tibetische Chauffeur lächelt nur, als ihm ein Polizist beizubringen versucht, dass das Fahrzeug hier
nicht stehen darf.
Bloss keine Hektik, zuerst bitte schön sollen die Passagiere aussteigen können. Man ist schliesslich
nicht 650 Kilometer weit gefahren, um sich die feierliche Stimmung im letzten Moment von Zürcher
Verkehrsvorschriften verderben zu lassen.
Das Ziel der französischen Reisegruppe und aller anderen vor dem Hallenstadion: Sie wollen den
Dalai Lama sehen, den spirituellen Anführer der Tibeterinnen und Tibeter in der Welt. Nach einem
mehrwöchigen Klinikaufenthalt in den USA hat «Seine Heiligkeit» am Freitag einen Zwischenstopp in
Zürich eingelegt. Jetzt wird sich der 89-Jährige in einer sogenannten Unterweisung an seine
Landsleute richten.


«Mir si hie ufgwachse»

Für die über 8000 Tibeterinnen und Tibeter in der Schweiz ist das eine riesige Sache, ein freudiges
Ereignis für die ganze Familie. Die meisten Zuschauer in der Arena stammen aus der hiesigen
Diaspora. Sie selber, ihre Eltern oder ihre Grosseltern flüchteten in den 1960er Jahren in die Schweiz,
nachdem China Tibet annektiert und unter Mao einen kulturellen Vernichtungskrieg gegen die
buddhistische Minderheit vom Zaun gebrochen hatte.
Die Sprache und die Religion der Tibeter stehen bis heute unter Druck. Der kommunistische
Zentralstaat treibt seine Assimilationspolitik in der südwestlichen Provinz kompromisslos voran.
Klöster dürfen kein Tibetisch mehr unterrichten, Kinder werden in Internate gesteckt, wo sie vor
allem Mandarin lernen. Die verlorene Heimat der Exiltibeter droht so immer mehr zu einem
gleichgeschalteten Aussenposten Pekings zu werden.
Umso wichtiger ist der Dalai Lama. Der 89-Jährige verkörpert nicht nur buddhistische Weisheit. Er ist
Nationalheld, Hoffnungsträger und persönliches Vorbild in einem. Das zeigt sich bereits vor seinem
Auftritt im Hallenstadion. Ein Berner Ehepaar – sie in tibetischer Tracht, er casual – strahlt in die
Kamera von Tele Züri und sagt: «Mir si hie ufgwachse.» Dennoch sei es wichtig, dem Dalai Lama nahe
zu sein. Sie hätten sich auch schon überlegt, nach Indien zu fliegen, um ihn in seinem Exil in
Dharamsala zu sehen. Ein Ausflug nach Zürich liegt da natürlich näher.


Positiv denken, positiv handeln

Für Karma Gahler, die Co-Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa (VTJE), ist es ebenfalls ein
grosser Tag. Die St. Galler Studentin hat Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel aus der Ostschweiz
dabei – plus ein paar Freunde aus England.
Über China, Tibet und die Schweiz hätte sie einiges zu sagen. Ihr Verein hat gemeinsam mit anderen
Organisationen zum Beispiel eine Petition lanciert, die den Bundesrat dazu verpflichtet, bei den
Verhandlungen über eine Weiterentwicklung des Freihandelsabkommens mit China auf die
Einhaltung der Menschenrechte zu bestehen.
Doch solche Fragen stehen am Sonntag nicht im Zentrum. Es ist der Tag des Dalai Lama, und auf ihn
freut sich die 24-Jährige wie alle anderen Exiltibeter in der Arena. Um 9 Uhr ist es so weit: Der
spirituelle Führer der Tibeter betritt die Bühne, er schreitet langsam auf seinen Thron zu. Tibetische
Mönche zu seiner Linken und Rechten stützen ihn. Sein hohes Alter, die Strapazen der langen Reise
und der komplizierten Knieoperation in den USA sind ihm deutlich anzusehen.
Aber seine Botschaften sind von lebendiger Aktualität, auch im Exil, fernab der Heimat im Himalaja:
Der Glaube gewährt Zuflucht, spendet Zuversicht, sorgt für positive Emotionen und ermöglicht so
gute Taten, «zum Wohle aller Lebewesen». Der Dalai Lama plädiert für «eine positive Geisteshaltung
– egal, ob man Buddhist ist oder nicht».


Der Sinn des Lebens?

Auf diese Frage hat er eine einfache Antwort: «Das Streben nach Erkenntnis – das ist die wichtigst
Qualität von uns Menschen.»
«Lang lebe der Dalai Lama!» Die Rufe aus dem Publikum werden tausendfach wiederholt. Die
Mönche im Saal huldigen ihrem Oberhaupt, indem sie ihm Gaben für ein langes Leben überreichen
und eine Khata, eine tibetische Glücksschleife. Tänze werden aufgeführt, Mantras nachgesprochen,
Gebete gesummt.
Dann, nach einer guten Stunde, ist der Auftritt «Seiner Heiligkeit» vorbei.

Druck aus Peking: Mario Fehr bleibt cool

Karma Gahler ist glücklich. Sie spüre eine grosse innere Ruhe, sagt die Marketing-Studentin der HSG.
Der Druck, den sie im Studium zu spüren bekomme, falle hier einfach ab. «Ich hoffe, dass ich von
dieser Gelassenheit etwas mitnehmen kann in den Alltag, für meine Masterarbeit zum Beispiel.»
Aber das sei leichter gesagt als getan.
Mario Fehr ist ebenfalls zufrieden. Der parteilose Zürcher Sicherheitsdirektor wohnte dem Dalai
Lama in der ersten Reihe bei. Neben ihm: die grüne Nationalrätin Sibel Arslan, Vizepräsidentin der
Aussenpolitischen Kommission, und ihr Parteikollege Nicolas Walder, der Vizepräsident der
Parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz – Tibet. Die beiden Bundespolitiker waren die
höchsten Vertreter aus Bern vor Ort. Die Landesregierung indes meidet den Dalai Lama seit Jahren.
Die Befürchtung, dass man Peking sonst nachhaltig verärgern und damit den Interessen der
Schweizer Wirtschaft in China schaden könnte, ist zu gross.
Mario Fehr indes, der zur Tibetergemeinschaft in der Schweiz schon lange gute Kontakte pflegt und
viele tibetische Freunde hat, bleibt unbeeindruckt. Er will sich von Peking nicht dreinreden lassen.
«Wir treffen jene Leute, die wir treffen wollen. Das haben wir schon immer so gemacht, und das
werden wir auch weiterhin tun.» Dass den Chinesen dies nicht gefalle, sei deren Sache. Man müsse
die eigenen Werte immer kommunizieren und dafür einstehen, sagte der Sicherheitsdirektor nach
der Zeremonie. Und nein, Bedenken aus dem Bundesrat habe er für seine Tibetpolitik bisher keine
vernommen.

Sagt’s, verneigt sich höflich und schreitet beschwingt davon. Auch er scheint sich die Gelassenheit
und innere Ruhe «Seiner Heiligkeit» zu Herzen nehmen zu wollen.